Das tote Mädchen
Emeline
Lucie fuhr an diesem sonnigen Nachmittag Anfang März im Auto die Côte Bleue entlang, die Küste westlich von Marseille zwischen Carry-le-Rouet und Sausset-les-Pins. Das Meer leuchtete strahlend blau, und die Kiefern an der Straße wiegten sich im Wind. Einige Boote waren unterwegs, ihre Segel flatterten wie weiße Fahnen auf dem Wasser. Lucie hatte soeben ihre neunjährigen Zwillinge beim Fußballtraining in Sausset-les-Pins abgesetzt, wo ihr Mann sie zwei Stunden später abholen würde.
Das Gespräch mit Marc, dem Trainer ihrer Söhne, hatte Lucie beunruhigt. Marc hatte gemeint, es bestehe das Risiko, dass die Spiele der kommenden Wochen wegen Corona abgesagt werden müssten. Lucie, die zwar wusste, was in Norditalien geschah, hatte sich über die Krankheit bisher trotzdem nicht groß Gedanken gemacht. In Frankreich war das Virus nicht sehr verbreitet, und sie hatten relativ gute Krankenhäuser, einen Lockdown konnte sie sich nicht vorstellen.
Doch der Trainer wusste anscheinend mehr als sie. Er hatte prophezeit, binnen weniger Tage würde Frankreich wie China und Teile Italiens in einen Lockdown gehen, die gesamte Bevölkerung würde unter Hausarrest stehen und die Schulen würden schließen. Man ging davon aus, dass es in Frankreich mehrere tausend Tote geben würde. Das war tatsächlich gar nicht so abwegig, wenn man sich die Situation in Italien ansah! Marcs Kommentare hatten Lucie in Angst versetzt. Dieses flaue Gefühl, das sie schon seit Tagen begleitete, hatte sich nun zu ganz konkreter Sorge verdichtet.
Es war für sie alle gerade keine angenehme Zeit. Ihr Mann hatte Probleme im Büro. Er arbeitete in der Firma Airbus Helicopters und war dort für den Verkauf nach Asien zuständig. Doch wegen Corona und des chinesischen Lockdowns hatte er in den vergangenen Monaten keinen einzigen Hubschrauber an den Mann gebracht. Auch Boni hatte er daher keine erhalten. Die weltweite Gesundheits- und Nicolas befürchtete sogar, seinen Job zu verlieren. Einige Schwarzmaler wie Lucies Nachbarin Madame Valmer behaupteten, es würde die größte globale Krise seit dem Zweiten Weltkrieg vor der Tür stehen. Nicolas spottete zwar immer über Madame Valmer und meinte, sie sei chronisch depressiv, doch diesmal war er genauso beunruhigt wie sie, auch wenn er das vor Lucie zu verbergen suchte.
Zum Glück arbeitete Lucie als Bürokraft im Rathaus von Martigues und würde ihre Arbeitsstelle auf jeden Fall behalten. Trotzdem empfand sie schon seit Tagen eine diffuse Angst. Da war die Sorge um Nicolas’ Job, dann jene um ihrer aller Gesundheit, vor allem die ihrer Eltern, die nicht mehr die Jüngsten waren und in Nordfrankreich lebten. Und dann kam noch die Sorge um Emeline hinzu. Lucie fand, dass ihre Tochter seit einigen Wochen sehr verschlossen war. Das fünfzehnjährige Mädchen wirkte unglücklich und verängstigt. Sie und ihr Mann schafften es nicht, zu ihr durchzudringen und herauszufinden, was los war. Doch sie ahnten, dass es mit der Schule zu tun hatte. Die Noten konnten es nicht sein, Emeline war immer eine gute Schülerin gewesen. Doch irgendetwas war geschehen …
Lucie hatte ein gutes Gefühl gehabt, als Emeline und ihre Freundin Christine in dieses Lycée in Marseille aufgenommen worden waren, das als eines der besten Oberstufengymnasien der Region galt. Es handelte sich um eine katholische Privatschule, wie es in Frankreich sehr viele gab. Kirchliche Organisationen oder Orden führten diese Schulen, doch der Lehrplan war derselbe wie an staatlichen Einrichtungen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass diese Privatschulen sich ihre Schüler aussuchten und Schulgeld verlangten. Trotzdem galten sie weder als Eliteschulen noch als Etablissements für Reiche. Emeline und Christine waren stolz gewesen, in dieses Gymnasium gehen zu können, anstatt wie ihre ehemaligen Mitschüler das öffentliche Lycée du Secteur in Martigues zu besuchen.
Doch sehr bald war Lucie durch Bemerkungen der beiden aufgefallen, dass sowohl Christine als auch Emeline sich in ihrer Klasse nicht wohlfühlten. Und seit den Weihnachtsferien war Emeline still und in sich gekehrt. Lucie hatte mit Christines Mutter darüber gesprochen, die sich genau dieselben Gedanken machte wie sie: Auch Christine schien zu leiden, erzählte aber zu Hause nichts. Die Klassenlehrerin hatte beim Elternsprechtag Lucie gegenüber erwähnt, dass Emelines Klasse sehr schwierig sei, eine Gruppe von Mädchen tyrannisiere die Mitschüler und auch einige Lehrer. Wahrscheinlich waren Emeline und Christine Opfer dieser Gruppe geworden. Fälle von Mobbing an Schulen gab es ja zur Genüge, doch Lucie wollte die Situation frühzeitig klären. Sie beschloss, noch am Abend eine E-Mail ans Sekretariat zu schreiben und um ein Treffen mit der Direktorin zu bitten.
Sie fuhr am Jachthafen von Carry-le-Rouet vorbei in ihr Stadtviertel, das ein wenig außerhalb des Zentrums auf einem Hügel lag. Überall blühten bereits Apfelbäume, Forsythien und Goldregen.
Lucie war froh, nicht direkt in Marseille zu wohnen und auch nicht in Martigues, mitten im Industriegebiet, sondern an der Côte Bleue, am Rand des schmucken Hafenstädtchens Carry-le-Rouet, in einer alten Villa, die sie umgebaut und modernisiert hatten und von deren Balkon aus sie in der Ferne das Meer sehen konnten. Der Garten war voller schöner alter Bäume, und vor zehn Jahren , als sie das Haus renoviert hatten, hatten sie sich ein Schwimmbad ausheben lassen. Für Lucie waren ihr Haus und ihr Garten eine Oase der Erholung.
Bald setzte sie den Blinker, bog in ihre Straße ein und hielt vor ihrem Grundstück an. Mit ihrer Fernbedienung öffnete sie das Gartentor und stellte das Auto vor dem Haus ab. Sie ging zur Haustür und drückte die Klinke herunter, doch die Tür war abgesperrt. Hätte Emeline nicht bereits von der Schule zurück sein müssen? Lucie kramte nach ihrem Schlüssel und sagte sich, dass der Bus wohl wieder einmal Verspätung oder Emeline ihn verpasst hatte. Nun, sie würde schon anrufen, wenn sie den Zug genommen hatte und vom Bahnhof abgeholt werden wollte, der ziemlich weit vom Haus entfernt war.
Lucie ging in die Küche und sah in den Kühlschrank. Sie beschloss, abends Pizza zu machen. Vorher wollte sie jedoch Emeline anrufen, um zu erfahren, wo ihre Tochter war. Sie wählte die Nummer, aber das Mädchen meldete sich nicht. Allerdings hörte sie im Obergeschoss Emelines Telefon läuten.
Verblüfft legte sie auf.
Es läutete nicht mehr.
Sie wählte erneut Emelines Nummer und stieg die Treppe hinauf.
Und da hörte sie das Telefon ganz deutlich aus Emelines Zimmer. Ihre Tochter war daheim! Warum hatte sie sich eingesperrt?
Lucie rief nach ihr und klopfte an die Zimmertür. Keine Antwort. Lucie öffnete die Tür. Stirnrunzelnd sah sie auf Emelines Telefon und auf die Schultasche, die am Boden stand. Auf dem Schreibtisch neben dem Telefon lagen der Zeichenblock und ein Stück Kohle. Emeline, die so gern zeichnete und ein besonderes Talent dafür bewies, hatte wohl sofort etwas skizziert, als sie von der Schule heimgekommen war.
Lucie öffnete den Block und sah sich die Zeichnung an. Voller Missfallen runzelte sie die Stirn, denn sie sah einen Baum mit ausladenden Ästen, in dem ein totes Mädchen an einem Seil hing, das um ihren Hals geschlungen war. Ein Mädchen mit wuscheligen Haaren, wie Emeline. Das Bild war sehr gelungen, doch es jagte Lucie einen Schauer über den Rücken.
Im Haus herrschte Totenstille. War Emeline im Badezimmer oder im Keller? Aber Lucie konnte ihre Tochter nirgends finden. Nun, vielleicht saß sie ja im Garten und zeichnete dort. Von ihrem eigenen Schlafzimmer trat Lucie auf den Balkon, der ihr einen Blick über das gesamte Grundstück gewährte. Die blühende Magnolie streckte ihre kräftigen Zweige bis zu ihr herüber. Lucie erfreute sich an der zartrosa-roten Farbe der wundervollen Blüten und sog den Duft ein.
Doch als sie ans Geländer trat und ihren Kopf ein wenig nach rechts drehte, zuckte sie zusammen und begann zu schreien.
Vor ihr, nur wenige Meter entfernt, baumelte Emeline an einem Seil, das am dicksten Ast der Magnolie befestigt war. Emelines Gesicht war bläulich, die Augen geschlossen. Ihr Körper hing schlaff wie eine Stoffpuppe zwei Meter über dem Rasen. Es war deutlich zu sehen, dass ihr Genick gebrochen war. Emeline war tot, jede Hilfe kam zu spät. Lucie schien keine Luft mehr zu bekommen. Ihre Beine gaben nach, sie sank wimmernd zu Boden.
Der Tote von Port Pin
Mordgelüste
Julie sah in den Spiegel. Es gab nichts an ihr auszusetzen. Und trotzdem wollte Grégory sie nicht mehr sehen. Er wollte nicht mit ihr sprechen, beachtete sie nicht mehr, verhielt sich so, als hätte es Julie niemals gegeben. Wegen dieser Hippie-Braut. Sie war eine Schönheit. Sie war alternativ. Nicht reich, nicht schick, sondern bescheiden, in verschiedenen wohltätigen Vereinen und Umweltorganisationen tätig, écolo bis in die Knochen. In Julies Freundeskreis galt das alles als uncool, doch Grégory fuhr darauf ab. Von einem Tag auf den anderen war er ausgezogen, nachdem er Éliane kennengelernt hatte. Ihre fünfjährige Beziehung hatte er ganz einfach beiseitegeschoben, vergessen, verraten. Grégory wollte nicht mehr mit ihr sprechen. Sie hatte es probiert. Hatte ihn im Büro aufgesucht, in Bars abgepasst, in denen er verkehrte, hatte ihn zur Rede stellen, ihn an ihre gemeinsame Zeit erinnern wollen. Ihre beste Freundin Camille hatte sie davon abzuhalten versucht. „Er ist ein Schwein, und es wäre auch in Quebec so gekommen. Sei froh, dass du keine Kinder mit ihm hast! Und wenigstens in Frankreich bist, wo wir dich unterstützen können! Renn ihm nicht hinterher!“ Doch sie war ihm weiter hinterhergerannt. Sie war zutiefst verletzt, schwankte ständig zwischen unbändiger Wut auf Grégory und seine neue Liebe und abgrundtiefer Trauer über die verlorene Beziehung. Tag und Nacht sann sie nur über Grégory und Éliane nach, die Gedanken an seinen Betrug raubten ihr den Schlaf und nahmen ihr jegliche Lebensfreude. Vor zwei Tagen, als sie ein wenig zu viel getrunken hatte, hatte sie sogar geschluchzt: „Ich bringe ihn um. Ich will, dass er von der Erdoberfläche verschwindet!“ Ihre Freunde hatten sie entsetzt angesehen, und Camille hatte gemeint: „Nein, das willst du nicht, Julie! Du willst ihm zeigen, dass du auch ohne ihn sehr glücklich werden kannst. Und dass er für dich Luft ist.“ Doch sie war von dieser unglaublichen Wut zerfressen, der Wut auf Grégory, der sie nur benutzt hatte. Der ihr Leben zerstört hatte. Die Erinnerungen mit ihm waren vergiftet, die letzten Jahre, als sie nur für ihn gelebt hatte, schienen ihr nun sinnlos. Julie wusste, dass sie ihn liebte, wie sie noch nie jemanden geliebt hatte. Und zugleich hasste sie ihn, weil er ihre Gefühle nicht mehr erwiderte, sie einfach entsorgt hatte. Sie hasste auch Éliane, diese Ökotussi, die ihr den Freund gestohlen hatte. Ihre Wut wurde mit jedem Tag noch größer …
Sie nahm in der Küche ein großes scharfes Messer und fuhr mit dem Zeigefinger über dessen Spitze. Sie stellte sich vor, dass sie Grégory und Éliane die Klinge in den Leib rammte. Sofort erschrak sie über ihre Gedanken. Trotzdem legte sie das Messer nicht zurück in die Schublade, sondern steckte es in ihre Handtasche. Sie beschloss, die beiden an diesem Abend zu beobachten, um zu erfahren, was sie taten. Sie schnappte sich ihre Handtasche, verließ die Wohnung und stieg in ihr Auto, das ganz in der Nähe stand. Sie wusste schon seit einer Weile, wo Éliane wohnte: in einem Wohnblock im Stadtteil Mazargues. Dort stellte sie das Auto vor dem Parkplatz ab, der zu dem Mietshaus gehörte und nahezu leer war. Élianes Twingo war nicht da. Doch wenn sie und Grégory heimkamen, dann würde sie die beiden sehen. Sie hatte eine Flasche Whiskey mit, aus der sie immer wieder einen kräftigen Schluck nahm, um sich zu beruhigen und sich Mut anzutrinken. Bald spürte sie, dass ihre Gedanken durch den Alkohol leicht zu verschwimmen begannen. Auch ihre Gefühle wurden dumpfer und damit erträglicher.
Julie wusste nicht, wie sie es genau angehen würde, hatte keinen Plan. Sie wollte die beiden ein letztes Mal zur Rede stellen. Sie malte sich aus, wie Grégory und Éliane Händchen hielten, einander küssten, eng umschlungen im Bett lagen. Diese schmerzhaften Bilder, die ihr bisher jedes Mal die Tränen in die Augen getrieben hatten, riefen nun eine eiskalte Wut in ihr hervor. In diesen Minuten, vor Élianes Haus, fasste sie einen Entschluss. Die beiden sollten sterben.