Textprobe


Der Tote von Port Pin

Mordgelüste

Julie sah in den Spiegel. Es gab nichts an ihr auszusetzen. Und trotzdem wollte Grégory sie nicht mehr sehen. Er wollte nicht mit ihr sprechen, beachtete sie nicht mehr, verhielt sich so, als hätte es Julie niemals gegeben. Wegen dieser Hippie-Braut. Sie war eine Schönheit. Sie war alternativ. Nicht reich, nicht schick, sondern bescheiden, in verschiedenen wohltätigen Vereinen und Umweltorganisationen tätig, écolo bis in die Knochen. In Julies Freundeskreis galt das alles als uncool, doch Grégory fuhr darauf ab. Von einem Tag auf den anderen war er ausgezogen, nachdem er Éliane kennengelernt hatte. Ihre fünfjährige Beziehung hatte er ganz einfach beiseitegeschoben, vergessen, verraten. Grégory wollte nicht mehr mit ihr sprechen. Sie hatte es probiert. Hatte ihn im Büro aufgesucht, in Bars abgepasst, in denen er verkehrte, hatte ihn zur Rede stellen, ihn an ihre gemeinsame Zeit erinnern wollen. Ihre beste Freundin Camille hatte sie davon abzuhalten versucht. „Er ist ein Schwein, und es wäre auch in Quebec so gekommen. Sei froh, dass du keine Kinder mit ihm hast! Und wenigstens in Frankreich bist, wo wir dich unterstützen können! Renn ihm nicht hinterher!“ Doch sie war ihm weiter hinterhergerannt. Sie war zutiefst verletzt, schwankte ständig zwischen unbändiger Wut auf Grégory und seine neue Liebe und abgrundtiefer Trauer über die verlorene Beziehung. Tag und Nacht sann sie nur über Grégory und Éliane nach, die Gedanken an seinen Betrug raubten ihr den Schlaf und nahmen ihr jegliche Lebensfreude. Vor zwei Tagen, als sie ein wenig zu viel getrunken hatte, hatte sie sogar geschluchzt: „Ich bringe ihn um. Ich will, dass er von der Erdoberfläche verschwindet!“ Ihre Freunde hatten sie entsetzt angesehen, und Camille hatte gemeint: „Nein, das willst du nicht, Julie! Du willst ihm zeigen, dass du auch ohne ihn sehr glücklich werden kannst. Und dass er für dich Luft ist.“ Doch sie war von dieser unglaublichen Wut zerfressen, der Wut auf Grégory, der sie nur benutzt hatte. Der ihr Leben zerstört hatte. Die Erinnerungen mit ihm waren vergiftet, die letzten Jahre, als sie nur für ihn gelebt hatte, schienen ihr nun sinnlos. Julie wusste, dass sie ihn liebte, wie sie noch nie jemanden geliebt hatte. Und zugleich hasste sie ihn, weil er ihre Gefühle nicht mehr erwiderte, sie einfach entsorgt hatte. Sie hasste auch Éliane, diese Ökotussi, die ihr den Freund gestohlen hatte. Ihre Wut wurde mit jedem Tag noch größer …

Sie nahm in der Küche ein großes scharfes Messer und fuhr mit dem Zeigefinger über dessen Spitze. Sie stellte sich vor, dass sie Grégory und Éliane die Klinge in den Leib rammte. Sofort erschrak sie über ihre Gedanken. Trotzdem legte sie das Messer nicht zurück in die Schublade, sondern steckte es in ihre Handtasche. Sie beschloss, die beiden an diesem Abend zu beobachten, um zu erfahren, was sie taten. Sie schnappte sich ihre Handtasche, verließ die Wohnung und stieg in ihr Auto, das ganz in der Nähe stand. Sie wusste schon seit einer Weile, wo Éliane wohnte: in einem Wohnblock im Stadtteil Mazargues. Dort stellte sie das Auto vor dem Parkplatz ab, der zu dem Mietshaus gehörte und nahezu leer war. Élianes Twingo war nicht da. Doch wenn sie und Grégory heimkamen, dann würde sie die beiden sehen. Sie hatte eine Flasche Whiskey mit, aus der sie immer wieder einen kräftigen Schluck nahm, um sich zu beruhigen und sich Mut anzutrinken. Bald spürte sie, dass ihre Gedanken durch den Alkohol leicht zu verschwimmen begannen. Auch ihre Gefühle wurden dumpfer und damit erträglicher.

Julie wusste nicht, wie sie es genau angehen würde, hatte keinen Plan. Sie wollte die beiden ein letztes Mal zur Rede stellen. Sie malte sich aus, wie Grégory und Éliane Händchen hielten, einander küssten, eng umschlungen im Bett lagen. Diese schmerzhaften Bilder, die ihr bisher jedes Mal die Tränen in die Augen getrieben hatten, riefen nun eine eiskalte Wut in ihr hervor. In diesen Minuten, vor Élianes Haus, fasste sie einen Entschluss. Die beiden sollten sterben.

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