Textproben


Das tote Mädchen

Sie fuhr am Jachthafen von Carry-le-Rouet vorbei in ihr Stadtviertel, das ein wenig außerhalb des Zentrums auf einem Hügel lag. Überall blühten bereits Apfelbäume, Forsythien und Goldregen.
Lucie war froh, nicht direkt in Marseille zu wohnen und auch nicht in Martigues, mitten im Industriegebiet, sondern an der Côte Bleue, am Rand des schmucken Hafenstädtchens Carry-le-Rouet, in einer alten Villa, die sie umgebaut und modernisiert hatten und von deren Balkon aus sie in der Ferne das Meer sehen konnten. Der Garten war voller schöner alter Bäume, und vor zehn Jahren , als sie das Haus renoviert hatten, hatten sie sich ein Schwimmbad ausheben lassen. Für Lucie waren ihr Haus und ihr Garten eine Oase der Erholung.

Bald setzte sie den Blinker, bog in ihre Straße ein und hielt vor ihrem Grundstück an. Mit ihrer Fernbedienung öffnete sie das Gartentor und stellte das Auto vor dem Haus ab. Sie ging zur Haustür und drückte die Klinke herunter, doch die Tür war abgesperrt. Hätte Emeline nicht bereits von der Schule zurück sein müssen? Lucie kramte nach ihrem Schlüssel und sagte sich, dass der Bus wohl wieder einmal Verspätung oder Emeline ihn verpasst hatte. Nun, sie würde schon anrufen, wenn sie den Zug genommen hatte und vom Bahnhof abgeholt werden wollte, der ziemlich weit vom Haus entfernt war.
Lucie ging in die Küche und sah in den Kühlschrank. Sie beschloss, abends Pizza zu machen. Vorher wollte sie jedoch Emeline anrufen, um zu erfahren, wo ihre Tochter war. Sie wählte die Nummer, aber das Mädchen meldete sich nicht. Allerdings hörte sie im Obergeschoss Emelines Telefon läuten.
Verblüfft legte sie auf.
Es läutete nicht mehr.
Sie wählte erneut Emelines Nummer und stieg die Treppe hinauf.
Und da hörte sie das Telefon ganz deutlich aus Emelines Zimmer. Ihre Tochter war daheim! Warum hatte sie sich eingesperrt?
Lucie rief nach ihr und klopfte an die Zimmertür. Keine Antwort. Lucie öffnete die Tür. Stirnrunzelnd sah sie auf Emelines Telefon und auf die Schultasche, die am Boden stand. Auf dem Schreibtisch neben dem Telefon lagen der Zeichenblock und ein Stück Kohle. Emeline, die so gern zeichnete und ein besonderes Talent dafür bewies, hatte wohl sofort etwas skizziert, als sie von der Schule heimgekommen war.
Lucie öffnete den Block und sah sich die Zeichnung an. Voller Missfallen runzelte sie die Stirn, denn sie sah einen Baum mit ausladenden Ästen, in dem ein totes Mädchen an einem Seil hing, das um ihren Hals geschlungen war. Ein Mädchen mit wuscheligen Haaren, wie Emeline. Das Bild war sehr gelungen, doch es jagte Lucie einen Schauer über den Rücken.
Im Haus herrschte Totenstille. War Emeline im Badezimmer oder im Keller? Aber Lucie konnte ihre Tochter nirgends finden. Nun, vielleicht saß sie ja im Garten und zeichnete dort. Von ihrem eigenen Schlafzimmer trat Lucie auf den Balkon, der ihr einen Blick über das gesamte Grundstück gewährte. Die blühende Magnolie streckte ihre kräftigen Zweige bis zu ihr herüber. Lucie erfreute sich an der zartrosa-roten Farbe der wundervollen Blüten und sog den Duft ein.
Doch als sie ans Geländer trat und ihren Kopf ein wenig nach rechts drehte, zuckte sie zusammen und begann zu schreien.
Vor ihr, nur wenige Meter entfernt, baumelte Emeline an einem Seil, das am dicksten Ast der Magnolie befestigt war. Emelines Gesicht war bläulich, die Augen geschlossen. Ihr Körper hing schlaff wie eine Stoffpuppe zwei Meter über dem Rasen. Es war deutlich zu sehen, dass ihr Genick gebrochen war. Emeline war tot, jede Hilfe kam zu spät. Lucie schien keine Luft mehr zu bekommen. Ihre Beine gaben nach, sie sank wimmernd zu Boden.

Der Tote von Port Pin

Julie sah in den Spiegel. Es gab nichts an ihr auszusetzen. Und trotzdem wollte Grégory sie nicht mehr sehen. Er wollte nicht mit ihr sprechen, beachtete sie nicht mehr, verhielt sich so, als hätte es Julie niemals gegeben. Wegen dieser Hippie-Braut. Sie war eine Schönheit. Sie war alternativ. Nicht reich, nicht schick, sondern bescheiden, in verschiedenen wohltätigen Vereinen und Umweltorganisationen tätig, écolo bis in die Knochen. In Julies Freundeskreis galt das alles als uncool, doch Grégory fuhr darauf ab. Von einem Tag auf den anderen war er ausgezogen, nachdem er Éliane kennengelernt hatte. Ihre fünfjährige Beziehung hatte er ganz einfach beiseitegeschoben, vergessen, verraten. Grégory wollte nicht mehr mit ihr sprechen. Sie hatte es probiert. Hatte ihn im Büro aufgesucht, in Bars abgepasst, in denen er verkehrte, hatte ihn zur Rede stellen, ihn an ihre gemeinsame Zeit erinnern wollen. Ihre beste Freundin Camille hatte sie davon abzuhalten versucht. „Er ist ein Schwein, und es wäre auch in Quebec so gekommen. Sei froh, dass du keine Kinder mit ihm hast! Und wenigstens in Frankreich bist, wo wir dich unterstützen können! Renn ihm nicht hinterher!“ Doch sie war ihm weiter hinterhergerannt. Sie war zutiefst verletzt, schwankte ständig zwischen unbändiger Wut auf Grégory und seine neue Liebe und abgrundtiefer Trauer über die verlorene Beziehung. Tag und Nacht sann sie nur über Grégory und Éliane nach, die Gedanken an seinen Betrug raubten ihr den Schlaf und nahmen ihr jegliche Lebensfreude. Vor zwei Tagen, als sie ein wenig zu viel getrunken hatte, hatte sie sogar geschluchzt: „Ich bringe ihn um. Ich will, dass er von der Erdoberfläche verschwindet!“ Ihre Freunde hatten sie entsetzt angesehen, und Camille hatte gemeint: „Nein, das willst du nicht, Julie! Du willst ihm zeigen, dass du auch ohne ihn sehr glücklich werden kannst. Und dass er für dich Luft ist.“ Doch sie war von dieser unglaublichen Wut zerfressen, der Wut auf Grégory, der sie nur benutzt hatte. Der ihr Leben zerstört hatte. Die Erinnerungen mit ihm waren vergiftet, die letzten Jahre, als sie nur für ihn gelebt hatte, schienen ihr nun sinnlos. Julie wusste, dass sie ihn liebte, wie sie noch nie jemanden geliebt hatte. Und zugleich hasste sie ihn, weil er ihre Gefühle nicht mehr erwiderte, sie einfach entsorgt hatte. Sie hasste auch Éliane, diese Ökotussi, die ihr den Freund gestohlen hatte. Ihre Wut wurde mit jedem Tag noch größer …

Sie nahm in der Küche ein großes scharfes Messer und fuhr mit dem Zeigefinger über dessen Spitze. Sie stellte sich vor, dass sie Grégory und Éliane die Klinge in den Leib rammte. Sofort erschrak sie über ihre Gedanken. Trotzdem legte sie das Messer nicht zurück in die Schublade, sondern steckte es in ihre Handtasche. Sie beschloss, die beiden an diesem Abend zu beobachten, um zu erfahren, was sie taten. Sie schnappte sich ihre Handtasche, verließ die Wohnung und stieg in ihr Auto, das ganz in der Nähe stand. Sie wusste schon seit einer Weile, wo Éliane wohnte: in einem Wohnblock im Stadtteil Mazargues. Dort stellte sie das Auto vor dem Parkplatz ab, der zu dem Mietshaus gehörte und nahezu leer war. Élianes Twingo war nicht da. Doch wenn sie und Grégory heimkamen, dann würde sie die beiden sehen. Sie hatte eine Flasche Whiskey mit, aus der sie immer wieder einen kräftigen Schluck nahm, um sich zu beruhigen und sich Mut anzutrinken. Bald spürte sie, dass ihre Gedanken durch den Alkohol leicht zu verschwimmen begannen. Auch ihre Gefühle wurden dumpfer und damit erträglicher.

Julie wusste nicht, wie sie es genau angehen würde, hatte keinen Plan. Sie wollte die beiden ein letztes Mal zur Rede stellen. Sie malte sich aus, wie Grégory und Éliane Händchen hielten, einander küssten, eng umschlungen im Bett lagen. Diese schmerzhaften Bilder, die ihr bisher jedes Mal die Tränen in die Augen getrieben hatten, riefen nun eine eiskalte Wut in ihr hervor. In diesen Minuten, vor Élianes Haus, fasste sie einen Entschluss. Die beiden sollten sterben.

Im Schatten des Saintes-Victoire

Ein junger Mann lief ihm ziemlich schnell entgegen, lächelte Jérôme flüchtig zu und rannte voller Energie an ihm vorbei. Der Jogger kam ihm bekannt vor, doch er sah in der Druckerei so viele Leute, dass er oftmals nicht sagen konnte, wann und wo er jemandem schon einmal begegnet war.

Plötzlich ertönte hinter ihm ein Schuss. Jérôme erschrak zu Tode, stolperte und ließ sich zu Boden fallen. Noch ein Schuss. Jérôme verbarg seinen Kopf in den Armen. Bald würde es zu Ende sein. Sein Leben. Es war zwar in letzter Zeit beschissen genug gewesen, aber in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er trotz allem noch nicht sterben wollte. Er wartete auf den Tod, aber es geschah nichts. Jérôme spürte nirgendwo am Körper Schmerzen. Langsam hob er den Kopf und blickte um sich. Schräg hinter ihm sah er eine maskierte und dunkel gekleidete Gestalt auf der anderen Straßenseite in ein graues Auto springen und davonrasen.

Zitternd setzte Jérôme sich auf. Er begriff nicht, was geschehen war. Als er sich jedoch umdrehte, erkannte er, wer das Opfer der beiden Schüsse war. Der junge Mann, der ihm vorher entgegengekommen war, lag am Boden und rührte sich nicht. Jérôme starrte auf den leblosen Körper. Da war plötzlich jemand neben ihm.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte eine männliche Stimme. „Sind Sie verletzt?“

Jérôme schüttelte den Kopf. „Nein … ich nicht. Aber … er!“ Zitternd zeigte er auf den offenbar getroffenen Jogger.

Der Mann, ein Läufer in Jérômes Alter, stürzte zu dem Opfer.

„Monsieur, Monsieur, hören Sie mich? Monsieur!“, wiederholte er immer wieder.

Ein junges Paar kam herangerannt.

„Was ist hier los?“, fragte eine andere Stimme.

„Warten Sie! Lassen Sie mich sehen! Ich bin Medizinstudentin und kenne mich mit Erster Hilfe aus.“ Eine weibliche, gestresst klingende Stimme.

Jérôme schaffte es, sich langsam zu erheben und zu den drei Personen zu schleppen, die nun um den bewegungslos am Boden liegenden jungen Mann knieten.

Die Medizinstudentin versuchte es mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage. Jérôme merkte, dass in ihre Augen Tränen traten, als der Erfolg ausblieb. Ihr Begleiter legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Lass es! Es ist zu spät. Er war schon tot, als wir eintrafen.“ Er zeigte auf die Schläfe des Mannes, an der ein Einschussloch zu sehen war.

„Eine Kugel in den Kopf“, sagte der Mann, der sich um Jérôme gekümmert hatte. „Waren Sie dabei?“, wandte er sich an ihn.

Jérômes Stimme klang wie eingerostet, als er antwortete: „Ja … ich war in unmittelbarer Nähe. Aber es geschah hinter meinem Rücken. Ich habe zwei Schüsse gehört und mich auf den Boden geworfen. Ich war mir sicher, dass ich erschossen werden würde. Und einige Sekunden danach sah ich einen dunkel gekleideten Mann mit schwarzer Maske davonlaufen und da drüben in einem grauen Auto in überhöhrtem Tempo wegfahren. Aber ich habe keine Ahnung, was das für ein Auto war.“