Als ein Kind der Alpen war es für mich am Anfang sehr seltsam, die Weihnachtszeit im Süden zu erleben. Meistens bin ich zu Weihnachten ohnehin zu meiner Familie nach Tirol gereist, wo ich den Schnee und die bekannten Traditionen wiedergefunden habe.
Es schien mir lange Zeit sehr komisch, grüne Weihnachten im strahlenden Sonnenschein zu feiern. Meistens ist es in den Festtagen im Süden ziemlich warm, häufig findet das Weihnachtsessen auf der Terrasse statt. Am Anfang störte mich das enorm, aber man gewöhnt sich an alles. Heute genieße ich die provenzalischen Weihnachtstraditionen, wenn ich über die Feiertage nicht nach Tirol reisen kann.
Eine bedeutende Tradition ist in Marseille und Umgebung das Kunsthandwerk der Krippenfiguren, santons genannt. Santon heißt so viel wie kleiner Heiliger. Überall in der Provence gibt es wundervolle Ausstellungen, mit Krippen, die als provenzalische Dörfer gestaltet sind. Die verschiedenen traditionellen Berufe sind als santons dargestellt: Der Bäcker, die Lavendelverkäuferin, der Weinbauer, die Camargue-Hirten, die Fischer, sie alle kommen zur Krippe, um dem Jesuskind zu huldigen. Hier heißt es, Jesus sei in der Provence geboren worden. Natürlich wissen die Einwohner der Provence über den wirklichen Geburtsort Christi Bescheid, aber die Tradition will, dass man sich Christi Geburt in einem provenzalischen Dorf vorstellt.
Auf dem Land sind die Südfranzosen teilweise noch religiös und gehen zur Mitternachtsmesse. Es gibt Dörfer, die zu Mitternacht als Teil der Messe feierliche Krippenspiele aufführen, mit wirklichen Tieren und verkleideten Engeln, Hirten und einem richtigen Baby als Jesus.
Nach der Mitternachtsmesse kommt man meistens müde und unterkühlt nach Hause. Dort werden die treize desserts – die dreizehn Nachtische – gegessen. Es handelt sich um eine alte Tradition, man serviert mitten in der Nacht Feigen, Datteln, getrocknete Früchte, kandierte Früchte, Nüsse und verschiedene provenzalische Süßigkeiten – dreizehn verschiedene Teller sind es. Früher wurde immer ein Platz am Tisch freigelassen, für den Armen, der vielleicht in dieser Nacht an die Tür klopft.
Auf dem Land leben diese Traditionen weiter, in der Großstadt Marseille geht es wesentlich kommerzieller zu. Am Alten Hafen findet ein riesiger Weihnachtsmarkt mit einem beleuchteten Riesenrad statt und in der Stadt boomen die großen Einkaufszentren. Die Kinder glauben in Frankreich an den Weihnachtsmann, überall laufen verkleidete Weihnachtsmänner herum und bieten den Kindern an, Fotos mit ihnen zu machen. Die Städte überbieten sich gegenseitig mit der Weihnachtsbeleuchtung – teilweise werden sogar ganze Kanäle und die Masten der Schiffe in den Häfen beleuchtet. Wunderschön, aber nicht unbedingt energiefreundlich, würde man in den nordeuropäischen Ländern sagen. Aber ich muss zugeben, dass die Beleuchtung einen besonderen Zauber schafft und dass es sehr angenehm ist, in den weihnachtlich beleuchteten Städten und Dörfern herumzuspazieren.

Der Vorteil der Weihnachtsmärkte ist, dass dort Kunsthandwerk und kulinarische Spezialitäten aus der Region verkauft werden und dass vor allem kleine Hersteller ihre Ware anbieten. Deshalb besuche ich diese Märkte gern. Ich finde dort immer Produkte guter Qualität. Ich persönlich versuche außerdem, meine Geschenke nicht in riesigen Einkaufszentren oder im Internet, sondern bei den Geschäftsleuten in meinem Wohnort zu kaufen.

Isle sur la Sorgue
mit dem beleuchteten Kanal
Das Essen hat in Frankreich zu Weihnachten einen besonderen Stellenwert. Die meisten Franzosen geben lieber Geld für gutes Essen als für teure Geschenke aus. Gänseleberpastete, Trüffel, Champagner und Lachs sind in Frankreich zu Weihnachten in allen Regionen nicht nur in reichen Haushalten zu finden. Die Weine werden für das Weihnachtsessen sorgfältig gewählt. Besondere Weihnachtskuchen, sogenannte bûches – bei uns würde man sie Cremerouladen nennen – werden selbst gemacht oder von Konditoreien verkauft. Die Franzosen gehen am Christtag auch gern ins Restaurant, wo spezielle Gourmet-Menüs angeboten werden.
Abgesehen davon fahren trotz allem viele Südfranzosen in die Alpen, weil Weihnachten mit Schnee natürlich der Hochgenuss der Gefühle ist. Fast alle meine Leser werden mit mir einverstanden sein: Grüne Weihnachten in der Provence sind angenehm, können aber nicht mit weißen Weihnachten in den Alpen mithalten!